Fokus Interview
Andrea Schemmel, Fachbereichsleiterin bei der Regionalkonferenz Bern-Mittelland, sagt, dass wir im bestehenden Siedlungsgebiet rund 1,5 Millionen Menschen mehr unterbringen können.
Interview Dietmar Knopf, Foto Urs Bigler

Das Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung führt zu einem grösseren Flächenverbrauch. Doch der Landschaftsraum ist begrenzt. Was können wir tun?

Wir müssen raumsparend bauen. Aus diesem Grund finde ich das Konzept vieler Genossenschaftswohnungen sinnvoll und nachahmenswert. Dabei steht ein geringer Pro-Kopf-Wohnflächenverbrauch im Vordergrund, ebenso gemeinschaftlich nutzbare Arbeitsräume und zumietbare Zimmer für Gäste, sodass man sich ein fixes Arbeits- oder Gästezimmer in der Wohnung sparen kann. Auch Synergien durch hybride Gebäude wie die Kalkbreite in Zürich, wo sich im Erdgeschoss ein Tramdepot befindet, über dem Wohnräume angeordnet sind, oder Sportplätze auf Supermarktdächern, gefallen mir sehr.

Zudem stehen sich zahlreiche Schutz- und Nutzungsansprüche gegenüber. Wie wollen Sie diese Konflikte entschärfen?

Im besten Fall findet man eine Lösung. Oft scheitern Innenentwicklungsvorhaben am Widerstand der ansässigen Bevölkerung, die den Verlust ihrer Ortsidentität und Grünräume fürchtet. In unserem Projekt «Innenentwicklung–Potenziale aktivieren» haben wir gefragt: Wie können wir die Zersiedlung unserer Siedlungsräume begrenzen, Orte so gestalten, dass sie die Einwohner auch nach den Eingriffen annehmen? In Oberdiessbach, bei der Umnutzung eines ehemaligen Industriegebietes, ist uns dieser Spagat gelungen. Wie? Indem die neuen Baukörper eine ortstypische Kubatur aufweisen (ungefähr gleich gross wie der Bestand), in dem sie so an den Strassenraum gestellt werden, wie es für das Dorf typisch ist (leicht abgeschrägt), und indem ortstypische Arten von Freiräumen das Gebiet strukturieren (Vorbereiche, Schwellenräume, kleine Plätze, grössere Spielflächen).

Wenn wir durch Neueinzonungen ständig neues Bauland generieren müssen, zerstören wir langsam unsere Landschaftsräume. Sehen Sie eine Alternative?

Da bin ich anderer Meinung. Erstens müssen wir nicht ständig neues Bauland generieren, sondern nur an dafür geeigneten Orten, und zweitens bedeutet «neues Bauland ausscheiden» nicht automatisch eine «Zerstörung von Landschaftsräumen». Wir sollten da bauen, wo Siedlungsraum ist. In Baulücken, das heisst in Gebieten, die bereits weitgehend von Siedlungsraum umschlossen sind, und auf brachliegenden Arealen, wie zum Beispiel Bahnflächen oder Industrieanlagen, die zentral liegen. Kleine Dörfer haben häufig mitten im Zentrum kleinere Landwirtschaftsflächen oder ­Bauernhofzonen. Auch diese Gebiete sollten wir nutzen. Zudem verfügen grössere Gemeinden über Flächen, die schon an zwei oder mehr Seiten von Siedlung umgeben sind. Wenn wir hier den Siedlungsraum schliessen, zerstören wir keine Landschaften. Wir sollten diese Frage mehr aus der räumlichen Sicht betrachten, weniger aus der rechtlichen.

Heute sind rund 25,3 Prozent der Schweiz unproduktive Flächen, etwas über 31,3 Prozent nehmen Waldflächen ein, knapp 35,9 Prozent stehen der Landwirtschaft zur Verfügung und nur 7,5 Prozent sind Siedlungsflächen. Müssen wir diese Gewichtung in Zukunft verschieben?

Nicht grundsätzlich. Der Nutzungskonflikt besteht im Berner Mittelland vor allem zwischen Bau- und Landwirtschaftsland. Zentrale, gut mit dem öffentlichen Verkehr erschlossene Areale und Baulücken sollten als Bauland genutzt werden können. Dadurch verringert sich das zur Verfügung stehende Landwirtschaftsland etwas.

Eine Möglichkeit für die Verdichtung unserer Städte ist der Bau von Hochhäusern. Was denken Sie über diese Wohnform?

Ich spreche lieber von Innenentwicklung als von Verdichtung: Sie können ein Gebiet baulich verdichten, ohne dass sie dadurch mehr Menschen auf gleichem Raum unterbringen. Es geht aber um Personendichte, nicht nur um bauliche Dichte, wenn wir landschaftsschonend planen und bauen wollen. Hochhäuser sind übrigens gar nicht bodensparend. Sie werfen Schatten, deshalb müssen sie auf grossen Parzellen stehen und brauchen genügend Abstand zu den Nachbargebäuden. Wenn wir bodensparend und identitätsstiftend bauen wollen, sollten wir uns fragen, wie wir Nähe gestalten wollen. Und wie wir baulich so verdichten, dass der Charakter des Ortes gestärkt wird. Dafür eignen sich manchmal Hochhäuser, an einem anderen Ort passen andere Typologien besser. Wir müssen Raumplanung und Städtebau zusammendenken, statt sie gegeneinander auszuspielen. Die Einsparung von Flächen darf nicht zu Lasten der ortsbaulichen Qualität gehen. Da besteht im Moment eine grössere Gefahr. Wir Planer schulden der ortsansässigen Bevölkerung den Nachweis, wie Dichte ihre Umwelt besser macht.

Lesen Sie das ganze Interview Andrea Schemmel in der Immobilia, September 2020.